Einwurf von Jannes Tilicke und Micha Heitkamp aus Minden-Lübbecke
Es gibt kaum eine Möglichkeit, Geschichte besser zu vermitteln als sie selbst zu erleben. Genau das werden sich auch die Veranstalter der Minden Marketing gedacht haben. Für den 7. und 8. September sind in Porta Westfalica Geschichtstage unter dem Motto „Von Wilhelm zu Widukind – 1000 Jahre Geschichte zu Fuß“ geplant. Vom Kaiser-Wilhelm-Denkmal aus über den Kamm des Wiehengebirges sollen Gäste dann Geschichte hautnah erleben können: Römische Patrouillen, germanische Krieger, Söldner aus dem 30-jährigen Krieg, Heinrich der II. soll mit seiner Gattin Kunigunde Minden wieder das Münzrecht erteilen und natürlich darf Kaiser Wilhelm II. nicht fehlen, der wieder das Denkmal seines Großvaters einweihen darf. Dazu gibt es ein Kinder-Mitmach-Programm, Musik und mit Sicherheit Bratwurst und Bier. Klingt nach zwei schönen Tagen: Kinder und Erwachsene lernen, wie Römer und Wilhelm II. ausgesehen haben, die heimischen Unternehmen machen ihren Umsatz, alle freuen sich über die aufregende Stadtgeschichte Porta Westfalicas. Aber was ist das für ein Geschichtsbild, das hier vermittelt wird?
Geschichte zu vermitteln ist für eine Gesellschaft etwas elementares. Ein kollektives Gedächtnis nennt sich so etwas. Allerdings geht es bei dem kollektiven Erinnern um etwas anderes als Marketing-Feste mit verkleideten Schauspielerinnen und Schauspielern. Worin soll die historische Erkenntnis liegen, wenn man weiß, wie Wilhelm II. ausgesehen hat? Zu dieser Person sollten einem eigentlich andere Dinge einfallen: Unterdrückung demokratischer Bewegungen, nationalistischer Größenwahn, deutsche Kolonialpolitik und vor allem die Hauptverantwortung für den 1. Weltkrieg. Also wirklich keine Person, auf deren Besuch einer Region man etwa hundert Jahre später stolz sein könnte.
Sieht man in dem Denkmal Kaiser Wilhelms I. in Porta Westfalica nur ein Denkmal einer historisch bedeutenden Persönlichkeit und ist sogar noch stolz darauf, dass zu der Einweihung eine historisch noch bedeutendere Persönlichkeit angereiste – und sei diese historisch noch so unakzeptabel – kommt man bei einer sehr oberflächlichen Geschichtsbetrachtung an und verdrängt sogar einiges. Geschichte wird zum Selbstzweck, wo Geschichte doch den wunderbaren Sinn verfolgt, aus „den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.“
Dazu müssten die großen Leitlinien der Geschichte klar werden, die dazu dienen historische Fragen zu beantworten. Warum gibt es zwei große christliche Konfessionen in Deutschland? Woher kam der Antisemitismus? Warum gibt es in Deutschland keinen König? Warum gab es zwei Weltkriege? Wozu gibt es ein Grundgesetz? Und warum haben wir in Deutschland Migranten? All diese Fragen eint, dass sie dabei helfen, zu verstehen, warum unsere Gesellschaft ist, wie sie ist. Sie helfen in der politischen Bildung und schließlich schaffen sie als höheres Ziel, den aufgeklärten Menschen, der „frei ist, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Am Ende laufen sie alle auf die gleiche Frage hinaus: Wie können wir verhindern, dass es ein zweites Auschwitz gibt? SchauspielerInnen können so etwas nicht leisten.
Als vor zwei Monaten in Minden die Veranstaltung „Mindener Zeitinseln“ stattfand, war das besonders gut zu erkennen. Da standen Soldaten der US-Armee neben Römern und „Steinzeit Mindenern“. Sogar eine Delegation von DarstellerInnen eines mittelalterlichen Japans konnte bestaunt werden. Verbindungen wurden natürlich nicht gezogen, was bei einem Konzept, das Geschichtsepochen als abgeschlossene Räume betrachtet auch gar nicht möglich ist. Doch auch mit der Aufklärung war es nicht weit, wie Jörg-Friedrich Sander, Geschäftsführer der Minden Marketing, auch offen im Mindener Tageblatt zugibt: „Die Mindener Zeitinseln sind ein Baustein des EU-Tourismusprojektes “Geschichte neu erleben in NRW”, mit dem wir den touristischen Fokus auf Minden lenken und insbesondere Tagestouristen nach Minden holen möchten.“ Das Ziel war also ein Vermarktung der Geschichte, um sie leichter verdaulich zu machen und schließlich ein großes Publikum nach Minden zu locken. Das eigentlich Interessante, das Verstehen, blieb dabei auf der Strecke.
Dass gerade an Orten wie dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal schnell die Geschichte vergessen wird, zeigt ein anderes Beispiel: Vor wenigen Wochen erst besuchte der heimische CDU-Bundestagsabgeordnete Steffen Kampeter das Denkmal zusammen mit dem Nachfahren des letzten deutschen Kaisers. Während Kampeter ins Wahlkampf-Horn blies und die Landesregierung attackierte, berichtete dieser im Interview mit dem Mindener Tageblatt über den Stolz auf seine Vorfahren. Öffentliche Verwunderung oder gar Kritik blieben aus.
Ein wenig erinnert das Geschichtsfest in Porta an die Feiern im Jahre 2009 zum 250. Jahrestag der „Schlacht bei Minden“, als die Lokalpatrioten die Bedeutung Mindens in der Weltgeschichte feiern durften. Damals inklusive: Eine peinliche Werbeposse von Steffen Kampeter und Guido Westerwelle und – zur besseren Erlebbarkeit der Geschichte – verkleidete SchauspielerInnen. Ob in den nachgespielten Kriegsszenen deutlich wurde, wie grausam eine Schlacht mit fast 5000 Todesopfern und 6000 Verwundeten ist, kann getrost bezweifelt werden.
Einen wichtigen Unterschied gibt es aber zwischen einem Fest für die Schlacht bei Minden und Feierlichkeiten für 1000 Jahre Geschichte in Porta Westfalica: In Porta soll die Geschichte noch weit über die angekündigten 1000 Jahre hinausgehen, der Blick soll bis zurück in die Steinzeit geworfen werden. Allerdings wird ein Teil der Geschichte wohl kaum beim Fest auftauchen: Das KZ-Außenlager Porta Westfalica. Direkt am Fuße des Denkmals, im Hotel Kaiserhof, waren von März 1944 bis April 1945 etwa 1500 Häftlinge untergebracht. Porta Westfalica war also auch ein Ort vonnationalsozialistischen Folterungen und Hinrichtungen. Die Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte hat sehr lange auf sich warten lassen und wird auch heute mehr von Einzelpersonen als von der Öffentlichkeit betrieben.
So etwas ist kein Einzelfall. Auch wenn man im Alltag immer wieder Aussagen wie „Wir haben uns jetzt auch genug mit dem Nationalsozialismus beschäftigt“ oder „Wir Deutschen waren doch jetzt lange genug die Schuldigen, das muss doch jetzt mal genug sein“, hört, scheint es in unserer Gesellschaft bis heute Probleme zu geben, sich wirklich mit der Geschichte zu beschäftigen. In jedem Dorf entstanden kurz nach Kriegsende Gedenktafeln für die gefallenen deutschen Soldaten. Bis in Deutschland endlich ein zentrales und politisch bedeutsames Mahnmal zum Gedenken der Holocaust-Opfer gebaut werden konnte, mussten 60 Jahre vergehen. In unserer Gesellschaft passiert also bis heute das genaue Gegenteil von kollektivem Erinnern, nämlich kollektives Vergessen. Es muss die Aufgabe der gesamten Gesellschaft sein, sich zu erinnern und die Verdrängung zu überwinden. Gelingt uns das nicht, lässt sich auch nicht ausschließen, dass so etwas wie der Holocaust, ein in der Weltgeschichte einmaliges Verbrechen, nochmal passiert. Sehr gut formuliert findet man das in einem sehr lesenswerten Vortrag des katholischen Theologen Reinhold Boschki von 2005, der eine „anamnetische Kultur“, also eine Kultur des Erinnerns, fordert.
Die Veranstalter von Minden Marketing wollen ganz bestimmt das Gegenteil von Geschichtsverdrängung, wenn sie die Geschichte Portas als buntes Volksfest organisieren, bei dem eine Delegation KZ-Häftlings-DarstellerInnen wohl stören würde. Die Gefahr aber, dass dieses Fest zu einer sehr oberflächlichen und damit im nächsten Schritt auch verdrängenden Geschichtsbetrachtung führt, ist nicht gering.
Wir wollen niemandem die Teilnahme an dem Fest ausreden, doch möchten wir darauf aufmerksam machen, dass Geschichte mehr ist, als SchauspielerInnen in bunten Kostümen. Gerade wenn sich die Politik mit einem vereinfachten, verkürzten und falschem Geschichtsbild gemein macht, wollen wir die Aufmerksamkeit auf eine kritische Hinterfragung richten und erinnern.